Tarab Tulku Rinpoche, Geshe Lharampa & Dr. phil.
Der Ehrwürdige Tarab Tulku wurde 1934 in Tibet geboren. Er schloss sein Studium der tibetischen Philosophie/"Wissenschaft des Geistes" in Tibet mit dem höchsten akademischen Grad eines Lharampa Geshe ab. Rinpoche war Direktor des Tibet House in Neu-Delhi, Indien, viele Jahre lang Dozent an der Universität Kopenhagen und Forscher an der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen. Um das alte indo-tibetische Wissen für die moderne Gesellschaft zugänglich und anwendbar zu machen, entwickelte Rinpoche eine Einheit-in-Dualität-Wissenschaft des Geistes und der Phänomene und der persönlichen Entwicklung sowie der spirituellen und psychotherapeutischen Anwendung. Unter Einbeziehung all dieser Themen richtete Rinpoche eine vierjährige Ausbildung in Einheit-in-Dualität ein, die er an den Tarab-Instituten in mehreren europäischen Hauptstädten lehrte. In den letzten 25 Jahren hielt Rinpoche unermüdlich Vorträge bei vielen internationalen Konferenzen in buddhistischer Philosophie/Psychologie sowie bei Unity-in-Duality-Workshops auf der ganzen Welt. Neben verschiedenen Veröffentlichungen in tibetischer Sprache gehören zu Rinpoches englischen Publikationen: Catalogue of Tibetan Manuscripts and Xylographs, Vol. I-II, Curzon, Richmond, Surrey Press/Royal Library, Kopenhagen 2000; A Brief History of Academic Degrees in Buddhist Philosophy, Nordic Institute of Asian Studies (NIAS), Kopenhagen 2000; sowie Artikel über tibetische Sprache und über buddhistische Philosophie/Psychologie, die in verschiedenen internationalen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Kurz vor seinem Tod in Dänemark im Jahr 2004 beendete Rinpoche ein großes Werk in tibetischer Sprache über Einheit in der Dualität, das in naher Zukunft in Dharamsala unter der Leitung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama veröffentlicht werden wird.
Einheit in der Dualität - Der Grund von Überall
Das Wissen um die Tendrel (rten- brel ist der tibetische Begriff für die zusammenhängende Natur der Realität oder den interdependenten Ursprung) ist grundlegend für die buddhistische Weisheit und geht auf Buddha Shakyamuni zurück. Sie wurde stets als Grundlage der brahmanischen Tradition des 4. Jahrhunderts v. Chr. verehrt. Aufzeichnungen belegen, dass die Weisheit Indiens auch einen bemerkenswerten Einfluss auf die griechische Philosophie im 3. Der Buddhismus wurde im 7. Jahrhundert n. Chr. in Tibet eingeführt und hat sich seither sowohl in der Theorie als auch in der Praxis weiterentwickelt. Seit dem 11. Jahrhundert gibt es eine ungebrochene Tradition der empirischen Erforschung der Natur der Wirklichkeit, die bis heute anhält. Die uralte Weisheit des Tendrel hat fremden Invasionen in ihrem Heimatland nicht standgehalten, ist aber Teil der tibetischen Kultur geblieben.
Tendrel ist die herausragende Wissenschaft von der zusammenhängenden Natur von allem, was existiert. In Übereinstimmung mit den buddhistischen Lehren verweisen die Gesetze, die Ursache und Wirkung von Existenzen regeln, auf die zusammengesetzte Natur jedes Phänomens und auf die von Augenblick zu Augenblick stattfindende Veränderung, die unaufhörlich in allem und überall stattfindet. Asanga - einer der beiden bedeutendsten buddhistischen Philosophen (reg. 395-470) - erklärte das Gesetz der zusammenhängenden Natur von Subjekt und Objekt genau und zeigte, dass ein Objekt nicht an und für sich existiert, d.h., dass Objekte aus vielen Gründen, die weiter unten dargelegt werden, nicht unabhängig vom erlebenden Subjekt existieren, da die Grundlage von Objekten nicht anders ist als die eines Subjekts. Nagarjuna - der zweitwichtigste indische buddhistische Gelehrte (um 150-250) - erläuterte tendrel ausführlich und zeigte, dass sowohl ein Subjekt als auch Objekte nur konventionell existieren, dass weder das eine noch das andere an und für sich existiert, dass alles, was existiert, auf eine miteinander verbundene Weise existiert. Akribisch legte er auch dar, dass sich konventionelle Wirklichkeiten in vier Einheiten entfalten: von Werden und Vergehen, von Endlichkeit und Unendlichkeit, von Lokalisierung und Delokalisierung sowie von Teilen und Ganzem.
Die Tendrel-Lehre ist von großer Bedeutung für die moderne Welt, die eine hochentwickelte materialistische und technologische Gesellschaft hervorgebracht hat, Errungenschaften, die in vielerlei Hinsicht sehr vorteilhaft sind, aber oft werden persönliche und menschliche Belange ignoriert. In diesem Zusammenhang hilft die Betrachtung und Integration von Tendrel, viele Wunden zu heilen. Die Einheit in der Dualität - Tendrel - ist eine wichtige Lösung zur Integration von innerer Weisheit und Wissenschaft, die oft als antagonistische Bereiche behandelt werden. Zeitgenössische Forscher haben ihre Aufmerksamkeit vor allem auf äußere oder materialistische Ziele gerichtet, die sicherlich die meisten heutigen Bedürfnisse befriedigen, aber inneres Wissen scheint die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler nicht zu erlangen, wenn es um humanitäre oder soziale und ökologische Bereiche geht. In Tibet und Indien hingegen war die Erkenntnis des Tendrel ganz natürlich in die Erforschung der weichen Bereiche der Wissenschaft eingebettet. Tendrel war immer und unablässig Teil der Philosophie, Metaphysik, Erkenntnistheorie, Wissenschaft des Geistes, persönlicher und transpersonaler Untersuchungen und Praktiken; Tendrel war das Sprungbrett, um uns selbst und die Welt in ihrer wechselseitigen Beziehung zu verstehen; es war die anerkannte Grundlage, auf der sowohl persönliche als auch spirituelle Entwicklung möglich war. Das Paradigma der Einheit in der Dualität fördert das Verständnis der vielen Aspekte der zusammenhängenden Einheiten, die auch von modernen Wissenschaftlern entdeckt wurden - es ist heute genauso entscheidend wie in der Vergangenheit.1
Der Buddhismus ist das Studium fortschrittlicher philosophischer Ansichten; er legt den Schwerpunkt auf die Wissenschaft des Geistes und der Phänomene. Die Buddhisten haben die Natur der Realität im Spektrum der gegenseitigen Entsprechung von Subjekt und Objekt untersucht. Darüber hinaus waren sie schon immer äußerst neugierig darauf, herauszufinden, warum unsere Erfahrungen nicht mit der Welt übereinstimmen, und haben Praktiken entwickelt, die es uns ermöglichen, unsere Wahrnehmungs- und Erkenntnisdefizite zu erkennen, damit wir die Welt wahrhaftiger annehmen können. Es ist meine persönliche Überzeugung, dass das Wissen um Tendrel weder von einem bestimmten Umfeld abhängt noch auf historische Zeiten beschränkt ist, sondern dass es eine universelle Wahrheit ist und für jeden, der ein sinnvolles Leben führen möchte, von großem Nutzen ist.2
Tendrel in Bezug auf die drei Einheiten
von Subjekt/Objekt, Körper/Geist und Energie/Materie,
ein Ausdruck des Paradigmas der Einheit in der Dualität
Um die universelle Wahrheit von Tendrel für die Studierenden von heute zugänglicher und anwendbarer zu machen, habe ich die Wahrheit von Tendrel als das Paradigma formuliert, das die verschlungene Beziehung zwischen den drei interdeterminierten Einheiten von Körper und Geist, Subjekt und Objekt sowie Energie und Materie erklärt - Wechselbeziehungen, die alles, was existiert, durchdringen und bestimmen.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Wahrnehmung und Erkenntnis eines Subjekts nicht ohne die Werkzeuge funktionieren kann, die es benutzt, weshalb die buddhistische Untersuchung eines Objekts immer in Verbindung mit dem Verständnis des Subjekts erfolgt; die Werkzeuge, mit denen es wahrnehmen kann, werden ebenfalls berücksichtigt. Die Erkenntnis der entscheidenden Rolle, die das Subjekt bei der Wahrnehmung von Objekten durch die Sinne spielt, fördert ein intensives Interesse an den Komponenten des Subjekts - Körper und Geist. Der Körper bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die fünf Sinne, die die ersten fünf Geister sind, die unterschiedliche Sinneseindrücke wahrnehmen und die allen mentalen Operationen zugrunde liegen, während Vorstellungskraft und sprachliche Fähigkeiten Merkmale des sechsten Geistes sind.
Gemäß der buddhistischen Literatur und der Erfahrung eines Yogis mit den subtileren Ebenen der Wahrnehmung wird gesagt, dass der konzeptuelle Geist auf den sensorischen Geistern und ihren jeweiligen Fähigkeiten basiert. Philosophen, Mystiker und Körper/Geist-Forscher haben jedoch entdeckt, dass das Gewahrsein jeder Verkörperung innewohnt, d.h. jeder lebende Organismus ist mit einem grundlegenden Gewahrsein ausgestattet. Der physische Körper besteht aus Materie, Bewusstsein ist Energie, und Energie ist beiden inhärent. Sie sagen uns, dass sogar Pflanzen über Lebensenergie oder Grundbewusstsein verfügen. Daher weist das Grundbewusstsein auf eine gröbere Ebene des Geistes hin. Tiefer gehend fanden buddhistische Gelehrte heraus, dass sogar anorganische Substanzen sowohl aus Materie als auch aus Energie bestehen, dass Energie die eigentliche Grundlage der Materie ist. Auf diese Weise ist das Verständnis von Materie und Energie das Sprungbrett, wenn man danach strebt, die Durchdringung von Subjekt und Objekt und Körper und Geist zu verstehen. Sowohl in den Sutras als auch in den Tantras hat es unzählige Debatten zu diesem Thema gegeben; beide Ansätze beschäftigen sich sowohl mit dem Studium als auch mit der Praxis.
Beziehung zwischen Subjekt und Objekt/Einheit
Wir können Subjekte und Objekte und ihre wechselseitige Beziehung auf verschiedene Weise erklären, aber wir werden uns eine wichtige Unterscheidung zwischen dem sensorischen Geist und dem konzeptuellen Geist ansehen, die in der frühen Abhidharma-Literatur dargestellt wird.
Unter der Voraussetzung, dass der Mensch alle günstigen Bedingungen besitzt, die eine wertvolle menschliche Existenz kennzeichnen, werden diese beiden Funktionen des Geistes als unterschiedlich und abhängig von den Objekten der Wahrnehmung beschrieben. Die ersten fünf Geister, die einen Geschmack, eine Berührung, einen Anblick, ein Geräusch oder einen Geruch wahrnehmen, können nicht ausdrücken, was sie fühlen; der sechste Geist, der konzeptuelle Geist, kann es. Dem Buddhismus zufolge ist der konzeptuelle Geist derjenige, der am meisten spricht, weil er mit Hilfe der Sprache begreifen kann und daher das, was die Sinne wahrnehmen, identifizieren und benennen kann. Daraus folgt, dass die sprachlichen Fähigkeiten auf Sinneswahrnehmungen und wahrgenommenen Objekten beruhen. Nachdem er ein Objekt identifiziert hat, benennt der begriffliche Geist bestimmte Fragmente dieses Objekts, wodurch eine Ganzheitserfahrung entsteht, und behandelt weniger offensichtliche Teile als nicht existent; es ist dieselbe Fähigkeit, die uns befähigt, zu vergleichen, zu messen, zu analysieren und zu wägen. Die buddhistische Literatur befasst sich sehr ausführlich mit diesem Thema und lehrt, dass Bezeichnungen zwar nicht dem Wahrgenommenen inhärent sind, dass sie aber die Grundlage für menschliche Realitäten, für Grammatik und Logik, für Ideen und Ideale, für Hoffnungen und Ängste bilden. Die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, hängt von der Art und Weise ab, wie wir Gefühle und Empfindungen definieren und klassifizieren. Daher können begriffliche Objekte keine objektiven Realitäten sein, d. h. man kann nicht sagen, dass sie da draußen oder aus eigenem Recht existieren, da sie von dem begrifflichen Geist abhängen, der sie identifiziert, bezeichnet und klassifiziert.
Neben den neutralen Realitäten, die wir mit unserem begrifflichen Verstand erschaffen und bis zu einem gewissen Grad mit anderen gemeinsam haben, hat jeder Mensch seine eigene innere Welt, die von persönlichen Identitätsmustern oder Gewohnheiten geprägt ist, die sich durch eigene Erfahrungen über einen längeren oder kürzeren Zeitraum angesammelt haben und unsere individuelle Vorstellung von der Realität beeinflussen. Wenn sich beispielsweise jemand in seiner Kindheit nicht geliebt und unterstützt gefühlt hat, wird diese Person automatisch verletzliche, selbstbezogene Identitätsmuster beibehalten, die ihre Sichtweise und Haltung gegenüber der Welt und allem, was sie mit sich bringt, stark beeinflussen. Solange private Realitäten durch schmerzhafte oder freudige Selbstbezüge bestimmt und genährt werden, sind sie keine objektiven Wahrheiten oder an und für sich real; vielmehr werden sie unter dem Einfluss vergangener Prägungen erlebt, die im Grundgedanken eines Individuums gespeichert sind. Die konzeptuelle Realität ist der Zustand der Identifizierung und Klassifizierung von körperlichen Empfindungen und Gefühlen. Der begriffliche Verstand kann uns, wenn er als real angesehen wird, in eine himmlische Erfahrung versetzen und ebenso schnell in einen Zustand der Paranoia fallen lassen - alles ist möglich und deckt sich mit selbstreferenziellen Gefühlen und Gedanken. Der Vorteil des Menschseins liegt also in der vorherrschenden Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, die von den zugrunde liegenden Mustern in Verbindung mit dem begrifflichen Verstand abhängt.
In der buddhistischen Literatur lesen wir, dass die ersten fünf Geister jeweils mit einem bestimmten Sinnesorgan verbunden sind und äußere Objekte direkt wahrnehmen, während der begriffliche Geist indirekt daran beteiligt ist. Die Sinnesorgane und die jeweiligen Objekte, die den fünf Sinnen erscheinen, sind für den begrifflichen Geist in dem Moment grundlegend, in dem er eine bestimmte Wahrnehmung erfasst, indem er sie definiert. Aber auch auf der Sinnesebene sind Subjekt und Objekte miteinander verbunden. Objekte, die wir mit dem Sehvermögen wahrnehmen, existieren beispielsweise nicht genau so, wie wir sie sehen, denn das Sehen hängt von unseren Augen ab. Auch das, was wir hören, hängt von der Beschaffenheit unserer Ohren ab - hätten sich die Ohren anders entwickelt, wären auch die Töne anders. Daraus folgt, dass das, was wir hören, dort draußen auch nicht eigenständig existiert. Das Gleiche gilt für die anderen drei Sinneswahrnehmungen. Wir können die Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt tiefer betrachten: Wenn Wahrnehmung und Kognition grob sind, dann sind es auch die Erfahrungen von Objekten, und umgekehrt, daher ist es schlüssig, dass der Rückgriff auf subtilere Werkzeuge der Wahrnehmung und Kognition weniger diversifizierende Realitäten und mehr vereinheitlichende Subjekt-Objekt-Erfahrungen hervorbringt.
Wechselbeziehung/Einheit von Körper und Geist
Körper und Geist standen schon immer in einer Wechselbeziehung, die von einer groben Ebene von Körper und Geist, die eine hochgradig duale Matrix der Existenz hervorbringt, bis hin zu einer zunehmend subtileren Ebene von Körper und Geist reicht, die weniger Vielfalt zum Ausdruck bringt.
-- Die Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist auf einer grobstofflichen Ebene
Die allgemeine buddhistische Literatur spricht von einem groben Körper und sagt uns, dass er aus den fünf physischen Sinnen besteht, und dass die fünf Sinne zwei Aspekte haben: die fünf Sinnesorgane und die fünf verbundenen Energiekräfte. Jede Energiekraft nimmt eine Form an, die sich im oder auf dem jeweiligen Sinnesorgan befindet. Diese Sinneskräfte ermöglichen es jedem der ersten fünf Geister, ein adäquates Objekt so wahrzunehmen, wie es sich in oder auf dem jeweiligen Sinnesorgan widerspiegelt. Im Vertrauen auf die spezifische Struktur, Reichweite und Beschaffenheit eines Sinnesorgans sowie auf die Fähigkeit der damit verbundenen Energiekraft kann der jeweilige Geist unter den ersten fünf ein Objekt wahrnehmen.
Auf der Grundlage eines physischen Sinnesorgans, seiner Energiekraft und einer Irritation, die durch ein geeignetes Objekt ausgelöst wird, identifiziert und klassifiziert der begriffliche Verstand eine Wahrnehmung. Ohne die physischen Sinne und den entsprechenden Verstand würde der begriffliche Verstand nicht so funktionieren, wie er es tut; in diesem Fall gäbe es keine negativen und positiven Gefühle sowie widersprüchliche Emotionen, d.h. der grobe Verstand sowie die Vielfalt der externalisierten Realitäten würden sich nicht ohne den groben physischen Körper entwickeln. Auf diese Weise sind der grobstoffliche Körper und der grobstoffliche Verstand miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Diese Wechselbeziehung wird während des Sterbeprozesses deutlich, wenn der grobstoffliche Körper schwächer wird; infolgedessen nehmen auch die physischen Sinne und der konzeptuelle Verstand, der für Gedanken und Emotionen verantwortlich ist, allmählich ab, bevor sie im Sterbeprozess aufhören zu funktionieren.
Die Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist auf einer subtilen Ebene
In der buddhistischen Meditationstradition lernen wir, dass es dem sechsten Geist möglich ist, die Fähigkeit zu entwickeln, Objekte genauso direkt wahrzunehmen wie die Sinnesorgane, dass es möglich ist, eine energetisch-sensorische Verkörperung (einen subtilen Körper) zu entwickeln, durch die der sechste Geist Formen und Farben, Klänge, Gerüche, Geschmäcker und taktile Empfindungen direkt wahrnehmen kann, ohne sich auf die Wahrnehmungsschleusen des groben Körpers zu verlassen. Wir lernen, dass es für den sechsten Geist möglich ist, mit Hilfe des feinstofflichen Körpers sowohl intuitive Wahrnehmung als auch subtile Erkenntnis zu entwickeln. Allerdings ist unser physischer Körper durch seine zeitlichen und räumlichen Grenzen gebunden, während sich die Dimensionen beider entsprechend der Subtilität des Körpers mehr und mehr öffnen. Je nachdem, wie offen der feinstoffliche Geist geworden ist, ist es möglich, die Bandbreite der Erfahrungen zu erweitern. Im Traumzustand benutzen wir zum Beispiel ganz natürlich einen Traumkörper, der ein immaterieller Körper ist, der sehen, hören, riechen, schmecken und berühren kann. Aber da der Traumkörper nicht durch dieselben Grenzen wie der physische Körper behindert wird, erweist er sich als Energie- oder feinstofflicher Körper. Da der Traumkörper viele Hindernisse überwinden kann, die durch zeitliche und räumliche Begrenzungen entstehen, kann der Traumgeist auf natürliche Weise über die Begrenzungen hinausgehen, denen er im Wachzustand unterliegt - allerdings nur, wenn der Traumzustand gemeistert wurde. Ich denke, dass dies ein Hauptgrund ist, warum der Traumzustand in tibetischen schamanistischen, tantrischen und anderen Traditionen in vielen Teilen der Welt praktiziert wurde - um spirituell zu reifen. Der feinstoffliche Körper bestimmt den Umfang des feinstofflichen Geistes, so dass beide miteinander verbunden sind.3
-- Körper und Geist stehen auf einer sehr subtilen Ebene in Beziehung zueinander
Die tantrische Literatur spricht von rlung-sems, einer sehr subtilen Körper/Geist-Energie. rLung bezieht sich auf den extrem subtilen Körper; sems ist der extrem subtile Geist, der untrennbar mit rlung verbunden ist. In diesem Fall sind sowohl der feinstoffliche Körper als auch der feinstoffliche Geist in einem solchen Ausmaß miteinander verbunden, dass sie untrennbar, aber dennoch unterscheidbar sind.
Zusammenfassung: Wir haben gesehen, dass der grobe Körper und der grobe Geist, der subtile Körper und der subtile Geist sowie der sehr subtile Körper und der sehr subtile Geist miteinander verbunden sind. Die buddhistische Tradition sagt uns, dass ganz am Anfang der Evolution (Evolution ist der Zustand, über das hinauszugehen, was vorher war) die innewohnende, universelle Geist-Energie eine immaterielle Form annimmt, so dass der Geist immer mit einem immateriellen Körper ausgestattet ist und der immaterielle Körper immer mit Geist ausgestattet ist. Wir haben gesehen, dass die physischen Aspekte, die durch Zeit und Raum gebunden sind, den Rahmen für die Aspekte des Geistes bilden. Obwohl also Körper und Geist im Wesentlichen untrennbar und in Einheit sind, verfestigt sich der Körper/Geist gleichzeitig entlang evolutionärer Linien durch fortschreitende Stufen der Vergröberung in einer wechselseitigen Beziehung zu sich selbst und funktioniert in Abhängigkeit von der Itensität und den Qualitäten seiner dualistischen Manifestation - Einheit in der Dualität.
Wechselbeziehung/Einheit von Materie und Energie
Das Studium der Einheit von Materie und Energie vermittelt Wissen über die fortschreitende Entfaltung der Wirklichkeit und gibt Einblick in die miteinander verbundenen Stufen, die jede Evolutionsphase durchläuft. Werden und Vergehen - Entfaltung und Entfaltung - sind wie der Herzschlag und der Atem der Natur: das Ausatmen die Veräußerung und Verfestigung der Urenergie zur Materie, das Einatmen die Umwandlung. Beides geschieht in kürzesten Momenten der Zeit. Dharmakirti (600 n.Chr.) sprach in seinem Buch Pramana über den Atem der Zeit und schrieb: die kürzeste Dauer der Zeit wird auf der Grundlage des Zerfalls eines Atoms gemessen. 4 Schon sehr früh erkannte Dharmakirti, dass die Materie auf ihrer subtilsten Ebene kontinuierlich fließt und sich unaufhörlich verändert. In einem späten Abhidharma-Werk von Panchen Sönam Dragpa (1478-1555) steht geschrieben, dass die Evolution beginnt, wenn die Elementarkräfte (aus dem Tibetischen übersetzt als Erdelement-Urkraft, Wasserelement-Urkraft, Feuerelement-Urkraft und Luftelement-Urkraft) sich entfalten, während sie mit ihrer subtilsten Energieform unteilbar sind. Er lehrte, dass, wenn sich eine weitere Einheit der vier subtilen Elementarkräfte trifft und verschmilzt, vier neue Elementarkräfte entstehen. Von da an werden solidere Strukturen der Materie geboren. Die erste Einheit der vier Elementarkräfte erscheint, bevor eine Form entsteht, und ist daher keine Materie, sondern Energie, aus der Materie wird. Die zweite Einheit der Elementarkräfte wird als subtile Ebene der Materie oder Energie in der Materie beschrieben. Auf diese Weise manifestiert sich feste Materie - unser Körper mit den Objekten, die unseren Sinneswahrnehmungen erscheinen.
Nach buddhistischen Theorien der Evolution und Auflösung ist die Erdelement-Quelle (das gröbste Element) die ursprüngliche Kraft, die die Verfestigung der Materie bewirkt; die Wasser-Element-Quelle die ursprüngliche Kraft des Zusammenhalts; die Feuer-Element-Quelle die ursprüngliche Kraft der Reifung; die Luft-Element-Quelle die ursprüngliche Kraft der Bewegung und Ausdehnung; die Raum-Element-Quelle das Potential der ersten vier; und die Geist-Element-Quelle (das subtilste Element) die eigentliche Bewusstheit/Energie, die sowohl dem Körper als auch dem Geist, den Existenzen als solchen im Universum als Ganzes zugrunde liegt. Man sagt, dass die organische und anorganische Materie im gesamten Raum eine bewusstseinsähnliche Energie besitzt, die jeder Entwicklung in immer konkretere Räume zugrunde liegt. Diese grundlegende, universelle Bewusstseins-Energie durchdringt die Materie bis ins Kleinste und Vielfältigste, d.h. ohne diese Energie wäre die Materie ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne die unablässigen Schwingungen, die Energie in Materie verwandeln, könnte nichts werden oder aufhören; nichts könnte bleiben und nichts könnte sich ändern oder fortschreiten, wenn es sie nicht gäbe.
Es gibt eine sehr interessante Passage, die die Evolution klar als die allmähliche Entwicklung von Energie zu Materie beschreibt:
Die erste Stufe der Evolution ist die All-Erde (kun-gzhi), die drei Eigenschaften hat: Dunkelheit, Dichte und Nicht-Ding-Sein. An einem bestimmten Punkt nimmt die Dichte in dem Maße zu, dass sich Schwingungen einstellen. Die Schwingungen werden immer stärker; dann entsteht Klang. Der Klang wird lauter und lauter, bis Lichtstrahlen hervorbrechen. Gewahrsein (Rig-pa) entsteht aus dem Licht, und Selbsterkenntnis kommt hervor. In diesem Moment spalten sich Nirvana (Einheit) und Samsara (Dualität) auf. Aus dieser Spaltung entsteht die Materie. 5
Die Lehren sagen uns, dass unsere festen Körper und jede Form der Existenz aus derselben grundlegenden Energiequelle hervorgehen, die auch für den Geist verantwortlich ist, dass die Existenz nur durch die unablässige Sättigung mit Energie in unzähligen Formen möglich ist. Da das Universum untrennbar mit seiner widerhallenden Energiequelle verbunden ist, sind Materie und Energie untrennbar eins. Daher sind Körper und Geist sowie Subjekt und Objekt miteinander verbunden und voneinander abhängig. Es gibt also eine vereinigende Energie, die alles, was existiert und erscheint, durchdringt und bewegt; in einem tieferen Sinne ist die Realität eine Einheit in sich und über ihre eigene Entfaltung in zwei, eine Einheit in der Dualität.
Die Sichtweise
Die Einsicht in die hier erörterten Zusammenhänge ist ein Schlüssel zum Nutzen von sich selbst und anderen. Die Wechselbeziehungen zwischen Subjekt und Objekten zeigen, dass unsere Erfahrungen der Realität davon abhängen, wie wir uns selbst sehen und vor allem erleben. Unsere Gefühle und unsere Identität sind unsere Bezugspunkte und damit der Kern, um den sich die im Laufe der Zeit angesammelten Gewohnheitsmuster entweder drehen und wenden oder uns befähigen, zu wachsen und zu reifen. Wie wir gesehen haben, ist Veränderung ein Merkmal jeder Existenz im Universum; daher sollten hilfreiche therapeutische Methoden immer die wechselseitige Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Körper und Geist sowie zwischen Energie und Materie berücksichtigen.
Der begriffliche Verstand verfestigt abstrakte Gedanken und Ideen und identifiziert sie als Realitäten. Dieser kurze oder längere Moment blockiert die Fähigkeit, den fortlaufenden Prozess des Seins und Werdens wahrzunehmen. Mit anderen Worten, wenn wir auf einen begrifflichen Standpunkt fixiert sind und darin feststecken, werden wir gefangen genommen; als Folge davon wenden wir uns mit Angst gegen uns selbst und versuchen vergeblich, eine endliche Natur zu verteidigen, während wir verzweifelt zusehen, wie sie abebbt. Wenn wir weniger in den Abläufen des begrifflichen Verstandes gefangen sind, können wir uns öffnen und uns dem fließenden Kontinuum des Seins zuwenden und stattdessen unsere unendliche Natur erfahren. Solange wir unser Leben in Abhängigkeit von unseren Sinnen führen, wird unser Körper unseren Geist und unsere Welt bestimmen. Wenn wir Körper und Geist tiefer koordinieren, wird unser Geist ruhig und wir erleben die Realität mit mehr Leichtigkeit. Wenn wir unseren subtilen Körper und Geist vertiefen, kommen wir in Kontakt mit unseren Potenzialen, die in uns schlummern, und können sie verwirklichen; dann können wir dem Leben einen Sinn geben, indem wir uns mit uns selbst anfreunden und die Welt realistisch annehmen. Wir haben gesehen, dass Energie die Materie durchdringt und ihre nicht greifbare Grundlage ist, so dass die Materie die Brücke zur Energie jenseits der Materie ist. Wenn wir die Energie erfahren, die der ureigene Grund von allem ist, verliert die Materie ihren festen Standort und ist für uns nicht mehr unstimmig. Wenn wir die grundlegende Natur der Materie - die Energiequelle - erkennen, sind wir nicht mehr von ihr getrennt, sondern untrennbar mit ihr verbunden und leben harmonisch in delokalisierten Räumen - dem Grund von überall.6 Ich denke, dass die Gesundheits-, Kommunikations- und ökologischen Probleme, mit denen wir auf globaler Ebene konfrontiert sind, darauf zurückzuführen sind, dass wir die Zusammenhänge, die ich mit Ihnen teilen wollte, nicht erkennen. Wir berauben uns selbst und andere, wenn wir es versäumen, die Einheit in der Dualität, tendrel, in unser Leben zu integrieren, und dann - aus Mangel an Großzügigkeit aufgrund des Festhaltens an Gegebenheiten, die wir unwiderstehlich für real halten - verlieren wir den Kontakt zu unserem tiefsten Erbe und unserer natürlichen Heimat, die Wahrhaftigkeit ist. Ich danke Ihnen.
Zum Abschluss der Ersten Einheit-in-Dualität-Konferenz sagte Seine Heiligkeit der Dalai Lama:
Die Sichtweise der Verbundenheit bringt uns ein tieferes Bewusstsein: Unsere Zukunft hängt von anderen ab. Die Zukunft der Menschheit hängt von der Umwelt ab, und unsere heutige Welt ist so beschaffen, dass alle Teile der Welt eigentlich ein eigener Teil sind, deshalb hängt unsere Zukunft sehr von anderen ab. Wenn man also ein glückliches und erfolgreiches Leben für sich selbst anstrebt, muss man sich auch um die Interessen der anderen kümmern. Meine Interessen sind eng mit den Interessen anderer verknüpft; sich um die Interessen anderer zu kümmern, liegt also in unserem eigenen Interesse. Wenn wir uns um die Umwelt kümmern, kümmern wir uns auch um unsere eigene Zukunft. Wenn wir erst einmal erkennen, dass wir miteinander verbunden sind, wenn wir in gegenseitiger Abhängigkeit denken, wird dies einen enormen Nutzen mit sich bringen.7
Auszug aus dem Vortrag auf der ersten Unity-in-Duality-Konferenz in München, 2002. Auf Wunsch Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und des Ven. Tarab Tulku, herausgegeben von Lene Handberg, Leiterin und Ausbilderin des Unity-in-Duality Curriculums, das für die tibetische Gemeinschaft in Dehra Dun, Indien, und für westliche Studenten in europäischen Großstädten gehalten wird.
Möge die Tugend zunehmen!
Dieser Artikel wurde mit Genehmigung und in Zusammenarbeit mit Lene Handberg von Gaby Hollmann, München, 2005, überarbeitet und herausgegeben.
1 Siehe Thrangu Rinpoche, The Twelve Links of Interdependent Origination, Namo Buddha Publ. in Colorado & Zhyisil Chokyi Ghatsal Publ. in Auckland. (Fußnote eingefügt von g.h.)
2 Siehe Khenpo Tsultrim Gyatso Rinpoche, Progressive Stages of Meditation on Emptiness, Zhyisil Chokyi Ghatsal Publ., Auckland, Neuseeland. (g.h.)
Direkte Wahrnehmung bedeutet, dass die Sinne keine Benennung und Sprache verwenden (h.l.).
3 Siehe Thrangu Rinpoche, Transcending Ego: Unterscheidung von Bewusstsein und Weisheit, und Die fünf Buddha-Familien und die acht Bewusstseine, Namo Buddha Publ. & Zhyisil Chokyi Ghatsal Publ. Auch erhältlich als Website-Download unter Thrangu Rinpoche, dann Namo Buddha Publications. (g.h.)
4 Dharmakirti, Pramanavarttikam, III, 496. Übersetzt von Leonard Zwilling, Darmakirti on Apoha, Ann Arbor, 1976 (U.M.I. Dissertation Services). (h.l.)
5 Drag-po rang-byung rang-shar gyi rtsa-ba i rgyüd chen-po, in: The Manjurian Prince (Text aus dem 17. Jahrhundert), in der Kheng-ze chin-yang Collection, jetzt Teil der tibetischen Sammlung der Dänischen Königlichen Bibliothek in Kopenhagen. Der Originaltext ist ein Terma, der von Tertön Rig- dzin-rgöd-kyi-ldem- phru-chen im 13. Jahrhundert gefunden wurde. (h.l.)
6 Ken Wilber warnt eindringlich: Wir müssen alle Bewusstseinsebenen für ihren Eigenwert ehren, denn sie sind Bestandteile unseres eigenen Wesens, und sie zu zerstören ist buchstäblich selbstmörderisch für uns. (A Brief History of Everything, Shambhala Publ., Boston & London, 2000.) (g.h.)
7 Das Buch Einheit in Vielfalt enthält die Reden der Münchner Konferenz vom Okt. 2002, in denen dieses Zitat zu finden ist; erschienen im Theseus Verlag, Deutschland, 2005. (h.l.)
Übersetzt ins Deutsche von Johannes Billing. Falls etwas inhaltlich nicht richtig ist , wenden sie sich bitte an mich.2023